Selbstoptimierung kann schaden Lesezeit ca. 6 Minuten

Achtsamer, gesünder, sportlicher, produktiver…

Jeden Tag wird uns suggeriert, dass alles jederzeit für uns erreichbar ist, wenn wir nur konsequent genug an einer besseren Version unserer selbst arbeiten. Selbstoptimierung ist „in“ und irgendwie scheint alles nur noch eine Frage des richtigen Mindsets zu sein.

Seit ich auf Instagram unterwegs bin (hier geht es übrigens zu meinem Account), ist mir dieser Trend noch einmal verstärkt vor Augen geführt worden. Aber nicht nur dort.

„Das Kind in dir MUSS Heimat finden“ heißt es bei Stefanie Stahl. Die Fitness-App Freeletics verspricht dir „die beste Form deines Lebens“ und diverse Ernährungsexpert*innen versprechen dir, dass du Kraft deiner eigenen Gedanken deine Traumfigur erreichen kannst.

Doch sind wir als 2.0 Version denn tatsächlich glücklicher, gesünder und produktiver?

Ich habe da so meine Zweifel. Du auch?

Dann habe ich mindestens drei gute Argumente, die uns in unseren Zweifeln bestätigen.

Gefahr 1: „Ich bin nicht gut genug“: Selbstoptimierung kann Minderwertigkeitskomplexe verstärken

Man muss sich nur einmal in die vermeintlich mickrige Version 1.0 seiner Selbst hineinversetzen, um schnell zu merken, wie schlecht sie sich eigentlich fühlen muss.

Jeden Tag gibt sie ihr Bestes und bemüht sich, alles richtig zu machen. Aber statt gelobt zu werden, bekommt sie jeden Tag aufs Neue zu hören, dass alles, was sie tut, (immer noch) nicht genug ist.

Bin ich gut genug? Gefahren des Selbstoptimierungswahn
Selbstoptimierungsgedanken können
Minderwertigkeitskomplexe verstärken.

Keine schöne Vorstellung, oder?

Für persönliche Weiterentwicklung braucht man Selbstvertrauen. Doch wo soll das bitte herkommen, wenn man sein aktuelles Ich als unzureichend und minderwertig betrachtet?

Mir scheint es daher sinnvoll, sich im Kontext der eigenen Selbstoptimierung regelmäßig folgende Frage zu stellen:

Habe ich es mit einem tatsächlichen Problem oder einem (vermeintlichen) Mangel zu tun?

Ohne Frage gibt es Lebenssituationen, in denen Veränderung notwendig ist, weil du ein Problem hat, z.B. eine psychische Erkrankung, eine Trennungssituation, Schwierigkeiten im Job etc.

Anders sieht es aus, wenn du (vielleicht auch angesteckt durch andere) einen Mangel (zu wenig selbstbewusst, zu wenig sportlich, zu wenig entspannt) beseitigen willst.

In einem solchen Fall würde ich mich regelmäßig fragen: Stört mich dieser (vermeintliche) Mangel eigentlich wirklich? Oder falle ich hier gerade der Höher-Schneller-Weiter-Endlosschleife zum Opfer und bin ich nicht schlicht genug?

Beispiel für eine Mangel-Suggestion

Mein Instagram-Postfach quillt über von Anfragen sogenannter Businesscoach*innen. Diese versuchen, mich mit Hilfe rhetorischer Mittel, die schon die alten Griechen draufhatten, in ein Gespräch zu verwickeln.

Selbstoptimierung: Mangel oder Problem
Selbstoptimierung: Problem oder Mangel?

Das Ziel ist immer das gleiche. Sie versuchen, mir einen Mangel (zu wenig Follower, zu wenig Honorar, zu wenig Businesswissen usw.) zu suggerieren, damit sie diesen mit ihren Kursen und Programmen (wieder) beseitigen können.

Und ich habe schon fast das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, weil ich mit dem, was ich habe, schlicht glücklich bin. Weil ich happy bin mit dem Status Quo. Absurd, oder findest du nicht?

Du kennst das vielleicht von Versicherungsvertretern ;-). Früher nannte man ein solches Vorgehen das Geschäft mit der Angst. Achte doch in den nächsten Tagen einmal darauf, wie oft jemand (das kannst auch du selbst sein) versucht, dir einen Mangel zu unterstellen.

(Vielleicht interssiert dich in diesem Zusammenhang mein Beitrag 5 Tipps für mehr Selbstliebe I.)

Gefahr 2: „Wenn…dann“ – Selbstoptimierung verliert das Heute aus dem Blick

Selbstoptimierung basiert auf dem „wenn-dann-Prinzip“. Wenn du erst einmal positiver eingestellt bist, dann findest du einen Partner. Wenn du entspannter bist, führst du ein glücklicheres Leben usw.

Selbstoptimierung richtet sich also immer in die Zukunft.

Das kann dazu führen, dass du die Gegenwart aus dem Blick verlierst. Das wiederum zieht m.E. zwei große Nachteile nach sich

Zum einen kannst du so die Haben-Seite des Jetzt nur schwer genießen. Du verschiebst das Genießen, das sich-Freuen, das stolz und glücklich Sein für alle Zeit auf Morgen. Das ist ziemlich blöd, denn du kannst nur im Heute leben, fühlen, glücklich sein. Also bist du es eigentlich nie.

Selbstoptimierung Risiko
Selbstoptimierung: Leben im Morgen

Zum anderen kannst du dich ganz wunderbar von gegenwärtigen Problem-Schauplätzen ablenken.

Dieser Problematik bist du vielleicht in anderen Zusammenhängen schon einmal begegnet:

Wenn ich erst einmal ein Haus baue und/oder wenn ich erst einmal das nächste Kind bekomme, dann klappt es ganz sicher auch wieder mit meinem Partner. Wenn ich erst einmal befördert bin, dann arbeite ich wieder weniger. Wenn …

Hand aufs Herz: Wie oft hat dieser „Lösungsversuch“ bei dir funktioniert?

Gefahr 3: „Ich bin selbst Schuld“: Selbstoptimierung nimmt keine Rücksicht auf individuelle Lebensgeschichten und -umstände

Wenn dir jederzeit alles möglich ist, wenn du dich, deinen Körper und deine Gedanken nur ausreichend selbst optimierst, dann ist doch der logische Schluss,

dass es zwangsläufig an dir liegen MUSS, wenn du an einem Vorhaben scheiterst.

Ich finde das gefährlich. Sehr sogar.

Wo bleibt da die individuelle Lebensgeschichte? Wo die aktuellen Umstände?

Auch wenn ich schon den Aufschrei einiger Kolleg*innen höre: In unserem Leben ist nicht immer und überall alles für alle Menschen gleichermaßen möglich!

Das suggeriert der Selbstoptimierungs-Hype aber leider allzu oft. Und die Folge ist, dass Menschen sich selbst die Schuld an ihrer Situation geben.

(Das finde ich im Übrigen auch auf gesellschaftspolitischer Ebene sehr problematisch, aber das soll hier gerade nicht zum Thema werden.)

Selbstoptimierungsgedanken gefählich
Selbstoptimierung: Vernachlässigung individueller
Lebensgeschichten und Umstände

Menschen haben nicht die gleichen Voraussetzungen

Ein Mensch, der unter einer psychischen Erkrankung leidet (das sind in Deutschland immerhin derzeit 18 Millionen1), der in einer toxischen Bindung lebt oder der mit den Folgen traumatischer Erlebnisse kämpft, kann nicht all das, was jemand kann, der all diese Schwierigkeiten nicht hatte.

Gleiches gilt für jemanden, der aktuell mit einer Gewalttäter*in im Plattenbau oder in der Villa in bester Wohnlage lebt.

Diese Menschen können ihre Probleme nicht lösen, indem sie sich selbst optmieren.

Sport machen, Superfood essen, meditieren oder jeden Tag eine Affirmation sprechen, ist da vielleicht gut gemeint, aber wir alle wissen, was gut gemeint auch bedeuten kann.

Versteh mich nicht falsch, all diese Methoden sind in meinen Augen absolut sinnvoll und hilfreich. Ich praktiziere sie selbst. Es ist großartig, achtsamer zu leben, seinem Körper Gutes zu tun und seine Gedanken möglichst positiv zu gestalten, aber als Unterstützung, nicht als Heilmittel.

In einer Welt, in der Selbstoptimierung als Heilmittel gehandelt wird, sehe ich einfach die Gefahr, dass „echte“ Probleme bagatellisiert werden. Und dass Menschen sich noch schlechter fühlen, als sie es eh schon tun, weil sie sich willensschwach, undiszipliniert und schuldig fühlen.

(Vielleicht interessiert dich in deinem Zusammenhang mein Beitrag: 5 Tipps für mehr Selbstliebe II.)

Fazit: „Ich bin gut so, wie ich bin“: Weiterentwicklung statt Selbstoptimierung

Für mich besteht ein Unterschied, ob ich mich weiterentwickele, weil ich ein Problem habe, oder ob ich mich selbst optimiere, weil ich einen vermeintlichen Mangel an mir feststelle.

Ersteres macht immer Sinn. Zweiteres kann für den eigenen Selbstwert fatale Folgen haben und schlimmstenfalls sogar das Gegenteil von dem bezwecken, was man sich eigentlich wünscht – nämlich sich selbst zu lieben und glücklich zu sein!

Selstliebe statt Selbstoptimierung
Selbstoptimierung:
„Du bist gut genug!“ oder: Schaffe dir keine Probleme, wo keine sind.

Wenn du dir also das nächste Mal kleine und große Ziele setzt, frage dich doch einmal, ob du ein Problem beseitigen willst, unter dem du tatsächlich leidest und das dir schadet, oder ob du an etwas herummäkelst, was gar nicht gestört hat, bis dich irgendwer oder irgendetwas darauf aufmerksam gemacht hat.

Natürlich darfst du dich jederzeit zu einer anderen Version deiner selbst entwickeln, aber vielleicht musst du es nicht.

Vielleicht bist du schon hier und heute gut, so wie du bist. Und wenn du aktuell unglücklich bist, dann sind ja vielleicht auch schlicht die früheren oder aktuellen Umstände verantwortlich dafür und nicht du selbst!

Quelle: 1: L. Bauer: Was wirklich hilft, Spektrum 2022. (https://www.spektrum.de/magazin/psychotherapie-was-tatsaechlich-wirkt/1980292 , zuletzt abgerufen am 17.06.22)

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3 Kommentare

  1. Liebe Annika, das ist ja alles genau mein Thema gerade. Wenn man in einer Trennungssituation ist, werden diese ganzen Dinge der Selbstoptimierung von fast allen Beziehungscoachs und Paartherapeuten auf YouTube suggeriert. Nach unzähligen Podcasts und Videos zweifel ich gerade auch ein wenig, ob das der richtige Weg ist, um aus meiner Situation heraus zu kommen. Eigentlich fand ich mich schon vorher gar nicht so schlecht – muss aber lt. den Videos noch besser werden. Dann klappt’s auch mit der Überwindung der Trennung und mit einem Partner in Zukunft…?! Vielen Dank für den tollen Artikel! Liebe Grüße 🙂

  2. Liebe Annika, das ist ja alles genau mein Thema gerade. Wenn man in einer Trennungssituation ist, werden diese ganzen Dinge der Selbstoptimierung von fast allen Beziehungscoachs und Paartherapeuten auf YouTube suggeriert. Nach unzähligen Podcasts und Videos zweifel ich gerade auch ein wenig, ob das der richtige Weg ist, um aus meiner Situation heraus zu kommen. Eigentlich fand ich mich schon vorher gar nicht so schlecht – muss aber lt. den Videos noch besser werden. Dann klappt’s auch mit der Überwindung der Trennung und mit einem Partner in Zukunft…?! Vielen Dank für den tollen Artikel! Liebe Grüße 🙂

    1. Liebe Anke, danke für deine Rückmeldung. Am Ende ist es meines Erachtens immer das Beste, einen Zugang zur eigenen Intuition zu finden und dann entsprechend dieser zu handeln 😉 Und manchmal braucht es ja auch einfach „nur“ ein wenig Trost und Mitgefühl mit sich selbst anstatt des Wahns immer besser werden zu wollen/müssen. Ganz liebe Grüße, Annika

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