Über die Wirksamkeit von Psychopharmaka
Jeder Dritte leidet im Laufe seines Lebens mindestens ein Mal an einer psychischen Erkrankung. Leider scheint hiermit das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht.
So zeigt bspw. der Fehlzeitenreport der AOK aus dem Jahr 2019, dass die Anzahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen von 2006 bis 2018 um 64,2 (!) Prozent gestiegen sind. Auf 100 Fälle kommen dabei 11,2 psychische Erkrankungen. Der DAK Gesundheitsreport aus dem Jahr 2018 liefert mit 15 auf 100 Fälle ähnliche Ergebnisse.
Depressionen, Angststörungen, Suchterkrankungen etc. sind somit mehr Normalfall als Ausnahme. Eine erschreckende Tendenz, wenn man bedenkt, dass eine psychische Erkrankung für Betroffene (und Angehörige) mit sehr viel Leid, Ratlosigkeit und Ohnmacht verbunden ist.
Es ist also mehr als verständlich, dass viele erkrankte Menschen ihre Hoffnung auf Psychopharmaka setzen; versprechen diese doch eine (relativ) schnelle und effektive Heilung. Doch was können Psychopharmaka tatsächlich leisten? Wie wirksam sind sie? Welche Nebenwirkungen haben sie? Und was sollte man vor der Einnahme unbedingt beachten?
Welche Psychopharmaka gibt es?
Es gibt mittlerweile eine nahezu unüberschaubare Menge an Psychopharmaka auf dem Markt. Diese können nach unterschiedlichen Kriterien klassifiziert werden. Eine Möglichkeit ist die Einteilung nach Wirkweise.
Psychopharmaka: Die vier Hauptgruppen
- Neuroleptika (Mittel gegen schizophrene und andere Psychosen)
- Antidepressiva (Mittel gegen Depressionen sowie bspw. Angst – und Schlafstörungen)
- Tranquilizer (Mittel gegen Angst- und Spannungszustände)
- Phasenprophylaktika (rückfallverhütende Mittel)
Substanzen, die die höheren Hirnfunktionen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Konzentration beeinflussen, werden häufig ebenfalls zu den Psychopharmaka gezählt. Hierzu zählen bspw. Schlafmittel, Beruhigungsmittel oder starke Schmerzmittel.
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Wir wirken Psychopharmaka?
Diese Frage lässt sich sehr leicht beantworten: Forscher wissen es nicht!
Dennoch bietet die Forschung selbstverständlich plausible Hypothesen. Um diese zu verstehen, kann es hilfreich sein, sich zunächst die Arbeitsweise des Gehirns in aller Kürze vor Augen zu führen.
Wie arbeitet unser Gehirn?
Registriert eine der 86 Milliarden Nervenzellen, aus denen das Gehirn besteht, einen Reiz, so sendet sie Botenstoffe (sog. Neurotransmitter) ab. Diese heißen z. B. Serotonin, Dopamin oder GABA.
Diese Neurotransmitter gelangen nun in eine minimale Lücke (sog. synaptischer Spalt) zwischen der sendenden und der empfangenden Nervenzelle. Haben Sie die Lücke passiert, docken sie an die Rezeptoren der empfangenden Zelle an. Diese feuert sie dann auf die selbe Weise an die nächste Nervenzelle weiter (übrigens bis zu 500 Mal in einer Sekunde).
Damit die Übertragung weiterhin einwandfrei funktionieren kann, muss der Spalt nach dem Feuern aufgeräumt werden. Hierfür werden die Neurotransmitter, die nicht auf der anderen Seite andocken konnten, wieder eingesammelt und neu verwertet oder abgebaut. (Eine ausführliche Erklärung zur Arbeitsweise von Nervenzellen finden Sie bspw. in diesem Artikel.)
Wie funktionieren Psychopharmaka?
Die aktuelle Forschung geht davon aus, dass bei psychischen Erkrankungen das Gleichgewicht der Neurotransmitter im Gehirn in irgendeiner Form gestört ist. Im weitesten Sinne beeinflussen also jegliche Arten von Psychopharmaka den oben beschriebenen Botenstoffhaushalt.
Beispiel Antidepressiva
Antidepressiva werden in sechs Gruppen unterteilt. Eine davon ist die Gruppe der sogenannten Serotoninaufnahmehemmer. Diese stören den komplexen Transportmechanismus, der das übriggebliebene Serotonin wieder in die sendende Nervenzelle zurückbringen soll. Die Wiederaufnahme des Serotonins wird also behindert.
Auf diese Weise bleibt es länger im synaptischen Spalt und hat so mehr Möglichkeiten, mit den Rezeptoren der empfangenden Zelle in Kontakt zu kommen. Kurz: Die Verfügbarkeit von Serotonin im Gehirn wird erhöht.
Vorteile Psychopharmaka
- Forschungsergebnisse geben Hinweise darauf, dass Psychopharmaka – insbesondere Antidepressiva und Neuroleptika – bei mittelschweren bis schweren Erkrankungen gute Ergebnisse liefern.*1
- Die Behandlung greift schnell (meist in ca. zwei Wochen).
- Die Behandlung erfordert wenig Zeit.
- Es gibt eine große Auswahl an Präparaten, welche bei ganz unterschiedlichen Problematiken wirken können, z.B. Schlafförderung oder Antriebssteigerung.
Nachteile Psychopharmaka
- Studien geben Hinweise darauf, dass Psychopharmaka, insbesondere Antidepressiva, keine signifikant größere Wirkung als Placebos aufweisen. *2
- Die Nebenwirkungen sind z.T. massiv.
- Da die Forschung noch (lange) nicht in der Lage ist, die Komplexität jedes individuellen Gehirns zu erfassen, ist jedes Psychopharmakon ein Schuss ins Blaue. Um diese Willkürlichkeit zu vermeiden, müssten, so ein Psychiater mit dem ich vor kurzem sprach, in regelmäßigen Abständen MRTs gemacht werden. Derweil werden aber zumeist nicht einmal regelmäßige Blutproben entnommen.
- Die Rückfallquote ist höher als bei einer Psychotherapie.
- Problematische Lebensumstände (z.B. Belastungen in Beruf und Partnerschaft) bleiben unberührt.
- Einige Psychiater, so z.B. Jann E. Schlimme (Interview), heben das unterschätzte Abhängigkeitspotential von Psychopharmaka hervor.
Fazit: Psychopharmaka – Ja oder Nein!?
Hoffnungen und Ängste, die mit der Einnahme von Psychopharmaka verbunden sind, werden in der Praxis gleichermaßen erfüllt. In der Forschung gibt es offensichtlich ebenso viele Gegner wie Befürworter und am Ende bleibt festzuhalten: Jeder Mensch sollte sich entsprechend seiner individuellen Umstände für oder gegen Psychopharmaka entscheiden.
Was braucht es für eine gute Entscheidung für oder gegen Psychopharmaka?
1. Aufklärung
Für eine Entscheidung bedarf es m.E. unbedingt einer ausreichenden Aufklärung – sowohl über die Wirksamkeit als auch über die Unwirksamkeit.
Auch wenn einige Ärzte es gern behaupten: Psychopharmaka sind keine Wunderpillen! Es gibt ungefähr genauso viele Studien, die die Wirksamkeit von Psychopharmaka „belegen“,wie solche, die die Unwirksamkeit „belegen“.
Die Hälfte aller Psychopharmaka wird von Hausärzten (und nicht von Fachärzten) verschrieben. Ich empfehle Ihnen, einen guten Facharzt aufzusuchen, wenn Sie vor der Entscheidung stehen: Psychopharmaka – Ja oder Nein!?
2. Alternativen
Nicht jede psychische Erkrankung bedarf einer medikamentösen Behandlung. Wenn Sie Medikamente nehmen und es Ihnen damit besser geht, dann nehmen Sie diese weiter. Wenn bei Ihnen Medikamente jedoch bisher nicht den gewünschten Effekt gezeigt haben:
Es stehen viele Alternativen zu einer Medikation, wie z.B. unterschiedliche Psychotherapieverfahren oder Beratungsansätze, zur Verfügung!
Der systemische Ansatz geht bspw. davon aus, dass Störungen nicht im Individuum entstehen, sondern durch Störungen der sozialen Beziehungen. Folgt man dieser Hypothese, sind Medikamente wenig hilfreich, da das „Grundproblem“ nicht analysiert und behoben wird. Schauen Sie doch hierzu gern einmal in meinen Beitrag: Neue Wege aus der Depression – Heilung aus systemischer Sicht.
Bleiben Sie also durchaus skeptisch und hören Sie im Zweifelsfall immer auf Ihre innere Stimme! Nur Sie können wissen, was gut für Sie ist und was nicht.
Welche Erfahrungen haben Sie/hat Du mit Psychopharmaka gemacht? Würden Sie/würdest Du die Einnahme empfehlen und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Und wenn nein, warum nicht?
*1 Machen Sie sich selbst ein Bild: Studien mit trizyklischen Antidepressiva zeigten folgendes:
Einsatz von Placebos: Bei etwa 20 bis 40 von 100 Menschen, die Tabletten ohne Wirkstoff einnahmen, besserten sich die Beschwerden innerhalb von sechs bis acht Wochen.
Einsatz von Antidepressiva: Bei etwa 40 bis 60 von 100 Menschen, die ein Antidepressivum einnahmen, besserten sich die Beschwerden innerhalb von sechs bis acht Wochen.
*2 Nachzulesen z.B. hier: https://www.srf.ch/news/panorama/neue-studie-antidepressiva-wirken-kaum-besser-als-placebo
Ich habe manchmal das Gefühl, das zu schnell und zu viel auf Psychopharmaka gesetzt wird. Psychische Probleme kann man oftmals, ich sage nicht immer, einfacher und auch schneller lösen, ohne auf die Chemiekeule zurückzugreifen
Da kann ich mich nur voll und ganz anschließen. Für manche (!) Behandler ist vielleicht der schnellste und bequemste Weg. Das heißt noch lange nicht, dass es immer der beste ist.
Man sollte nicht die Symptome bekämpfen sondern die Ursache des Problems finden!
Ich kann mir gut vorstellen, dass in solch einer Situation Psychopharmaka das Problem des betroffenen lösen „schneller“ lösen kann aber auf Dauer nicht das Richtige Gegenmittel ist.
Da gebe ich Ihnen absolut Recht. Und nicht nur ich 😉 : Statistiken geben Hinweise darauf, dass die Rückfallquote bei der Gabe von Antidepressiva (ohne Psychotherapie) höher ausfällt als bei psychotherapeutischer o.ä. Begleitung. Wenn die Lebensumstände nicht geändert werden, können Medikamente allein (in den meisten Fällen) nicht dauerhaft zu einer „Heilung“ führen.