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Leere Versprechen oder volle Erfolge?

Ob systemische Beratung, systemisches Coaching oder systemische Organisationsentwicklung (um nur einige Beispiele zu nennen): Systemische Angebote und Weiterbildungen jeglicher Art sind in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen – und tun dies noch.

Jeder, der irgendwie mit seinem Angebot etwas hermachen will, scheint plötzlich „systemisch“ daherzukommen. Diese Entwicklung wird sowohl von der Konkurrenz als auch aus den eigenen Reihen vermehrt kritisch beäugt. Bei dem „systemisch-Zusatz“ handle es sich um ein unscharfes, bedeutungshohles „Alles-hängt-irgendwie-mit-allem-zusammen-Attribut“.

Der Begriff „systemisch“ werde zunehmend verwässert, verliere an Bedeutung und schon bald werde nicht viel mehr übrig sein als eine leere Worthülse. Dies verunsichert Hilfesuchende und Anbieter gleichermaßen. Doch ist diese Kritik berechtigt?

Was heißt „systemisch“ und ist die Kritik an systemischen Angeboten berechtigt?

Zunächst sollte man sich vielleicht vor Augen führen, dass nicht alles, was in Mode kommt, per se schlecht sein muss. Man denke an das Handy oder das Internet. Ohne letzteres könnten Sie diesen Artikel gar nicht lesen. Und nicht alles, von dem es viel gibt, muss zwangsläufig minderwertig sein.

So spricht eine weiträumige Verbreitung systemischer Angebote möglicherweise schlicht dafür, dass diese sinnvoll eingesetzt werden können – und zwar in ganz unterschiedlichen Kontexten.

Das mag den „Kenner“ dann vielleicht doch nicht ganz so überraschen: Schließlich bezieht sich „systemisches Denken“ nicht auf eine einzelne, fachspezifische (System-) Theorie.

„Systemisch“ kennzeichnet vielmehr ein wissenschaftliches Paradigma, eine Denkweise, welche sich aus Erkenntnissen ganz unterschiedlicher Disziplinen, wie z.B. der Physik, der Biologie und der Soziologie, speist.

Man kann viele (Luhmann würde sogar sagen alle) Phänomene, ganz gleich ob bspw. physikalischer oder pädagogischer Natur, „systemisch“ betrachten.

Wenn man so will, gibt es eine systemische Brille, die man sich als Beobachter überstülpen kann. Mit Verwässerung hat der vielseitige Einsatz des Attributs „systemisch“ dementsprechend zunächst wenig zu tun. Es gibt eine Vielfachverwendung per Definition schlicht her.

Das mag erklären, warum es nicht nur systemische Therapie und Beratung, sondern auch systemische Organisationsentwicklung, systemische Pädagogik u.v.m. geben kann.

Warum es nicht nur eine Bedeutung von „systemisch“ geben kann

Der gemeinsame Nenner systemischer Ansätze ist der Versuch, Komplexität zu erklären, ohne sie zu reduzieren. Warum also sollte ausgerechnet das zugehörige Adjektiv in seiner Bedeutung unnötig reduziert werden?

Es liegt schließlich in seiner Natur, dass sich das kleine Wort „systemisch“ vor einem immens komplexen Hintergrund formen muss. Man denke nur an all die unterschiedlichen Disziplinen mit all ihren umfassenden Erkenntnissen. „Systemisch“ hat viel zu leisten.

Hinzu kommt, dass systemtheoretische Ansätze auf der Basis von Beobachtung operieren. Und wo viele individuelle Beobachter sind, gibt es, das würde jeder Systemtheoretiker sofort unterschreiben, viele unterschiedliche Wahrheiten. Alles andere widerspräche einem systemischen Denken und wäre im Sinne der Theorie paradox.

Woran man als Kunde gute und schlechte Angebote erkennen kann

Allerdings, und das scheint mir – auch im Hinblick auf die zunehmende Kritik – zentral: Man sollte die Möglichkeit der vielfältigen Nutzung nicht mit mangelnder Begriffsschärfe verwechseln!

Wenn auch der Begriff „systemisch“ m.E. nicht in jedem Kontext und von jedem Verwender gleich genutzt werden muss, darf dies keineswegs bedeuten, dass ein Anbieter keine klar konturierte Definition von (seinem) „systemisch“ hat. Das Gegenteil sollte der Fall sein:

Je mehr Auslegungen es gibt, desto wichtiger ist es, die eigene Auslegung klar vor Augen zu haben und – insbesondere bei Weiterbildungsangeboten – transparent machen zu können. Geschieht dies nicht, kann ich den Unmut und die Kritik, mit der sich systemisch Arbeitende zum Teil konfrontiert sehen, durchaus nachvollziehen.

Warum das Bewusstsein über eigene Grundannahmen für systemische Berater besonders wichtig ist

Das Bewusst-Sein über eine eigene „systemisch-Definition“ ist aber nicht nur bei Weiterbildungsangeboten wichtig. Auch in beraterischen Kontexten sollte sich der Berater der eigenen (theoretischen) Grundlagen unbedingt im Klaren sein.

Selbstverständlich interessiert einen Zu-Beratenden, der Hilfe bei einem Problem sucht, nicht im Geringsten, was die Kybernetik zweiter Ordnung mit systemischer Beratung zu tun hat. Und das muss ihn auch nicht interessieren. Er wird vermutlich auch niemals danach fragen.

Dennoch sollte man als Berater wissen, auf welcher Basis man warum wie handelt oder auch nicht handelt. Dies gilt selbstverständlich für alle Formen der Beratung und nicht nur für die systemische. Allerdings ist hier aufgrund der Vielfalt an Angeboten eine Abgrenzung ggf. wichtiger als bei anderen Ansätzen.

Fazit

Welche konkreten systemischen Grundlagen jeder einzelne Berater, Coach, Therapeut etc. nutzt, kann und darf, ja sollte sogar in meinen Augen ganz unterschiedlich sein. Schließlich brauchen unterschiedliche Hilfesuchende auch unterschiedliche Gegenüber, aus denen sie auswählen können.

Ein hohes Maß an Pluralität bzw. dessen Akzeptanz ist ja gerade einer der großen Vorteile, die das systemische Paradigma mit sich bringt. Der Verwender des Attributs „systemisch“ sollte sich nur immer wieder neu reflektieren, auf welchen Grundannahmen seine Arbeit fußt. Dies sichert nicht nur die Qualität der eigenen Arbeit. Es schützt auch vor (zumeist) unnötiger Kritik, z.B. von der Konkurrenz 😉 .

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